Warum Kirche sich in Politik einmischen soll

Christliche Werte und Normen zur Gestaltung der Gemeinschaft

Klimaproteste während der Hauptversammlung 2019 in Nürnberg © Jonathan Renau

Wenn Kirche heute zu aktuellen Themen und Ereignissen in der Gesellschaft Stellung bezieht und sich dabei auf ihren Glauben beruft, lebt sie in und aus dieser Tradition.

Die Frage, ob Kirche sich in die Politik einmischen soll, wird immer mal wieder diskutiert. Meine Antwort ist ein klares Ja, und dieses Ja will ich im Folgenden biblisch begründen.

Ich lese biblische Texte mit einer Methode, die nach den geschichtlichen Situationen fragt, in denen biblische Texte entstanden sind und in die hinein die Autoren sie gepredigt haben.

Der Prophet Jeremia z. B. empfiehlt seinen nach Babylon verschleppten Landsleuten in einem Brief: „Sucht das Wohl des Landes, in das ich euch verbannt habe, und betet für es. Denn sein Wohl ist euer Wohl.“ (29, 7). M. a. W.: Mischt euch in die Politik ein, gestaltet sie mit, damit es euch gut geht.

Nicht jeder Bürger ist Christ, nicht jede Bürgerin eine Christin. Aber jeder Christ ist Bürger, jede Christin Bürgerin eines Staates und damit unausweichlich am Zusammenleben im eigenen Land wie auch international beteiligt folglich auch mitverantwortlich – schon aus eigenem Interesse. Sucht der Stadt Bestes, des Landes auch und der Welt, der Zeit, in der ihr lebt.

Doch der oder die Einzelne kann schon im eigenen Dorf, in der eigenen Stadt nicht viel bewegen. Erst recht nicht im Land, in der Welt. Daher ist es sinnvoll, sich mit Gleichgesinnten zu verbünden. Dafür haben wir als Kirchen ein weltweites Netzwerk und können es nutzen. Dabei kommt uns in Europa das Subsidiaritätsprinzip zu Gute, das zu den Grundlagen der EU gehört.

Dieses Prinzip besagt vereinfacht, dass jede und jeder für sich selbst verantwortlich ist. Wo er oder sie eine Teilverantwortung nicht wahrnehmen kann oder wo eine Angelegenheit mehrere Menschen betrifft, ist die nächst grössere Einheit zuständig. Nur, was alle Menschen im Land betrifft, fällt in die Zuständigkeit der höchsten Ebene.

Das Subsidiaritätsprinzip gibt auch den Kirchen die Chance, sich auf allen Ebenen einzumischen. Der Kirchengemeinde auf der kommunalen Ebene, dem Kirchenbezirk auf Bezirksebene, der Gesamtkirche auf Regierungsebene.

In der ehemaligen DDR war von ehemaligen Partei- wie auch von Kirchenfunktionären (!) oft zu hören, Kirche solle sich um ihre Angelegenheiten kümmern und sich aus der Politik heraus halten. Diese Forderung stammt aus dem Sozialismus des 19. Jahrhunderts.

Diese Forderung verengt kirchliches Handeln auf die Sorge um das Seelenheil ihrer Schäflein im Jenseits. Sie ignoriert dabei, dass das Seelenheil eine durchaus diesseitige Angelegenheit ist: Jede Demütigung, jede Diskriminierung beschädigt die Seele eines Menschen - und oft auch Geist und Körper. Opfer solcher Misshandlungen zeigen das.

Ein Thema, das derzeit in Deutschland diskutiert wird, ist Lohngerechtigkeit. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, lautet die Forderung. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20) geht noch einen Schritt weiter: Die Arbeiter erhalten trotz unterschiedlich langer Arbeitszeiten je einen vollen Tageslohn. D. h., jeder bekommt so viel, wie er zum Leben braucht.

Die Kirchen kämpfen mit ihren Mitteln für Lohngerechtigkeit: Sie gehen an die Öffentlichkeit, sie solidarisieren sich mit den zu kurz Kommenden, Christinnen und Christen arbeiten in Entscheidungsgremien mit.

Der kürzliche Einsturz eines Fabrik- und Bürogebäudes in Bangladesh mit über 1.000 Toten hat ein Problem ins öffentliche Bewusstsein gebracht, gegen das kirchliche Hilfsorganisationen wie Brot für die Welt und Misereor schon lange agieren. Denn einige deutsche Textilketten lassen dort nähen, tragen also Mitverantwortung.

Aus der Gegenwart nun ein Blick zurück: Das Thema Staat und Kirche ist so alt wie die Bibel. Schon im Alten Testament lesen wir davon, wenn etwa in den Büchern Moses das Zusammenleben von Menschen nach göttlichem Willen geregelt wird und dafür Werte und Normen formuliert werden.

Solche Werte finden wir z. B. in den zehn Geboten. Diese sind zwar in der zweiten Person Singular geschrieben, doch das angesprochene Du ist nicht ein Individuum, sondern das Volk Israel als Ganzes.

In den zehn Geboten geht es unter anderem um Arbeitsrecht, um Familienrecht, um Sozialrecht, um Menschenrecht, um Eigentumsrecht. Die Gebote regeln also das Miteinander in einer Gemeinschaft, und dadurch sind sie politisch. Die Lebensregeln, die eine Gemeinschaft sich gibt, betreffen jedes einzelne ihrer Mitglieder. Und die Gemeinschaft bestraft, die gegen diese Regeln verstoßen.

Dann geht es um Gerechtigkeit und um Gnade, um Wiedergutmachung und um Vergebung. Auch dieses sind Werte, die eine Gesellschaft braucht, und zu denen die Bibel viel zu sagen hat.

In den beiden Büchern Samuel sind in den Kapiteln 7 bis 12 zwei gegensätzliche Stränge zu erkennen: Der eine steht dem Königtum in Israel kritisch, ja, ablehnend gegenüber: Als die Stammesältesten einen König fordern, heißt es von Samuel: „Samuel missfiel es.“ (1. Sam. 8, 6)  Die Begründung erfolgt im nächsten Vers, als Samuel Gott um Rat bittet und zu hören bekommt: „Nicht dich, sondern mich haben sie verworfen, dass ich nicht König über sie sein soll.“ Dann bekommt Samuel den Auftrag, das Volk eindringlich vor dem Königtum zu warnen. Bis dahin wurde der Zwölf-Stämme-Bund von einem Ältestenrat und einem gewählten „Richter“ geleitet, der Titel „König“ stand allein Gott zu.

In dem anderen Strang finden wir einen Hang zur Hofberichterstattung, die das Königtum positiv darstellt. Auch solche Regierungstreue, solche Untertänigkeit ist politische Einmischung.

Der Genfer Reformator Johannes Calvin (1509 – 1564) und seine Mitstreiter haben Gemeindeordnungen erarbeitet. Diese Ordnungen basieren auf dem Subsidiaritätsprinzip und regeln das gesamte kommunale Leben, das geistliche wie das weltliche. Beides lässt sich nicht voneinander trennen. Calvins reformatorischer Ansatz war, alles zu entfernen, was sich nicht biblisch begründen ließ. Biblische Begründungen für die Gemeindeordnungen fand er u. a. bei den alttestamentlichen Propheten.

Das mag überraschen, wenn man Propheten fälschlich für Hellseher hält. Sie waren allerdings hellsichtig: Auf der Grundlage ihrer Bildung und aus der Sicht ihres Glaubens analysierten sie die Situation ihres Volkes und sagten, was sie davon hielten. Bezogen Position zu sozialpolitischen Fragen, zu rechtspolitischen, zu bündnis- und friedenspolitischen Fragen. Kurz: Sie mischten sich in die Politik ein.

In den Büchern über die Könige Israels und Judas stehen immer wieder auch Berichte über das Auftreten von Propheten: Männer, vereinzelt auch Frauen, die sich im Auftrag Gottes einmischen. Sei es, dass sie das Volk ermahnen und zurecht weisen, sei es, dass sie sich korrigierend an die Herrschenden wenden.

In den 16 Prophetenbüchern von Jesaja bis Maleachi geht es hauptsächlich um aktuelle politische Fragen. Der Blick dafür ist durch die Interpretation dieser Bücher durch einige Autoren neutestamentlicher Schriften verengt worden (Paulus, Matthäus, johanneische Literatur). Sie deuteten Textstellen aus den Propheten als Hinweise auf Jesus als den Christus.

Doch auch das war politisch brisant, denn der von Israel erwarte Christus ist ein politischer Führer, ein zweiter Mose, der sein Volk in Freiheit und Unabhängigkeit führt. Die sehr früh einsetzende Verfolgung von Christen durch den römischen Staat mag darin begründet liegen.

Oft eckten Propheten mit ihren Einmischungen an, wurden nicht selten von den Machthabern verfolgt, auch inhaftiert. Bei Jeremia erfahren wir so einiges darüber. Doch die Propheten gaben nicht auf, sondern brachten in den öffentlichen Diskurs ein, was sie als richtig erkannt hatten.

Jesus von Nazareth hat sich auch so verhalten, das Neue Testament gibt davon Kunde. Besonders das Lukasevangelium hat einen sehr starken sozialpolitischen Akzent.

Wenn die Evangelien berichten, dass Jesus Behinderte integriert, Ausgestoßene resozialisiert,  sich zu arbeitsrechtlichen und steuerpolitischen Fragen positioniert hat, dann hat er Politik gemacht. Darum dürfen Kirchen heute das nicht nur, sie sind vielmehr durch ihren Herrn dazu verpflichtet.

Es ist Calvins Verdienst, diese prophetische Tradition wieder ins Bewusstsein gehoben zu haben – nicht nur bei den Reformierten, sondern mit der Zeit auch bei Lutheranern und Katholiken. Wie ich mir habe erzählen lassen, gab es bis zur Oktoberrevolution auch bei Orthodoxen diese Tradition. Danach war sie nicht mehr erlaubt und muss nun vielleicht neu entdeckt werden.

Der Hinweis auf die Samuelbücher hat schon deutlich gemacht: In der Bibel kommen unterschiedliche Standpunkte zur Sprache. Damit, dass die Bibel im Laufe mehrerer Jahrhunderte entstanden ist, lässt sich das teilweise erklären. Auch damit, dass die Autoren der biblischen Bücher durchaus ihre eigenen Meinungen hatten und vertraten. Gottes Wort begegnet uns stets vermischt mit menschlicher Meinung. Doch immer ging es den Propheten um Wohl und Heil der Menschen ihrer Gegenwart. Und: immer verstanden sie sich in ihrem politischen Handeln als von Gott beauftragt.

Es ist interessant festzustellen, dass neutestamentliche Autoren sich gern auf alttestamentliche Propheten beziehen, während diese sich häufig auf Mose berufen. Betrachtet man diese Abfolge vom anderen Ende her, heißt das: Die in den Mosebüchern aufgestellten Werte und Normen zur Gestaltung der Gemeinschaft sind bis ins Neue Testament tradiert.

Doch damit sind sie keinesfalls an ihr Ende gekommen: Wenn Kirche heute zu aktuellen Themen und Ereignissen in der Gesellschaft Stellung bezieht und sich dabei auf ihren Glauben beruft, lebt sie in und aus dieser Tradition.

Dafür genügt es nicht, die alten Worte wortwörtlich zu wiederholen. Wir müssen die Situation analysieren, in die hinein sie gesprochen wurden, ihren „Sitz im Leben“ herausfinden. Dadurch werden sie lebendig, und wir können ihren Sinn in unseren Worten in eine - ebenfalls gründlich analysierte – aktuelle Situation einbringen. So finden die alten Worte einen Sitz auch in unserem Leben.

Der Kirchentag in Hamburg stand unter dem Motto „So viel du brauchst“ – ein Wort aus dem 2. Buch Mose (16,16). Die Situation ist weltweit so, dass bei weitem nicht jede und jeder hat, was sie und er brauchen. Und dass nicht wenige viel mehr haben, als sie brauchen. „So viel du brauchst“ ist in unserer Zeit ein politisch brisantes Wort. Indem Kirche dieses uralte Wort neu sagt, mischt sie sich in die Politik ein und fordert sie zum Handeln auf.

Der Bundespräsident Joachim Gauck versprach in Hamburg: „Die Politik wird die Impulse aufnehmen, die von diesem evangelischen Kirchentag ausgehen.“ So kann erfolgreiche Einmischung in die Politik aussehen.


Paul Kluge