'Die Beschäftigung mit der Barmer Erklärung ist kein Selbstzweck'
Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung 'Gelebte Reformation' in St. Nicolai, Lemgo
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich danke Ihnen herzlich für die Einladung nach Lemgo. Es freut mich außerordentlich, dass es gelungen ist, die Ausstellung zur Barmer Theologischen Erklärung hier in der wunderschönen St. Nicolaikirche in Lemgo zu zeigen.
Die Ausstellung legt einen Fokus auf einen der wenigen, lichten Momente der Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus. Drei eng mit Schreibmaschinenschrift beschriebene Blätter sind das zentrale Ausstellungsobjekt. Sie halten das Ergebnis der ersten Bekenntnissynode im Mai 1934 fest, die sich in der Gemarker Kirche in Wuppertal-Barmen traf. Der äußere Druck des Nazi-Regimes auf die Kirche hatte die 400 Jahre lang intensivst gepflegten und trennende Auseinandersetzungen zwischen Reformierten, Lutheranern und Unierten für einen Moment in den Hintergrund treten lassen. Im Mai 1934 ging es um Wesentliches.
„Kirche muss Kirche bleiben“ lautete einer der Wahlsprüche in der Auseinandersetzung mit der Kirchenpolitik der Nationalsozialisten und deutet damit an, in welcher Situation man sich versammelte: Die Kirchen standen davor in Gestalt und Botschaft „gleichgeschaltet“ zu werden und sich gänzlich in den Dienst des nationalsozialistischen Staates nehmen zu lassen. Die 139 Synodalen, unter denen auch eine Frau war, suchten nach einer Haltung im bereits 1934 tobenden Sturm von Nationalismus. Gewaltsame Unterdrückung und Verfolgung politisch Andersdenkender und die Schikanierung von Jüdinnen und Juden gehörten schon zum Alltag. Jetzt, da die Kirche selber in diesen Sturm geraten war, regte sich Widerstand in in ihr.
Es ging darum, deine Haltung im Gegenüber einer weitverbreiteten Begeisterung zu finden, eine „Deutsche Kirche“ zu formen und endlich einmal Schluss zu machen mit all den Unterschieden in der Kirche. Mit Erfolg hatte die Nationalsozialisten Martin Luther ein Jahr zuvor (450. Geburtstag) gekapert und ihm zu dem Deutschen gemacht. Der mythologische Hammer, mit dem Luther seine Thesen an die Schlosskirchentüre gewaltsam gehämmter haben sollte, schmiedete ein gewaltiges, gemeinschaftsstiftendes Bild eines heldenhaften deutschen Mannes gegen alle Widersacher. Seine späten judenfeindlichen Schriften galten bei ihnen mehr als die Psalmen Israels und die Bergpredigt, die er ins Deutsche übertragen und damit wesentlich Kirche geprägt hatte.
An diesen letzten Tagen im Mai 1934 schafften es die unierten, reformierten und lutherischen Vertreter sich darauf zu konzentrieren, worauf es in der Kirche Jesu Christi ankommt: Auf ihre innere und äußere Ausrichtung an dem in Jesus Christus lebendig gewordenen Wort Gottes und nichts anderes. Anders ausgedrückt: Das Wort Gottes als Maß- und Richtschnur für das, was in der Kirche gesagt und getan werden soll. Wir hören es 1934 wie ein Echo der Kernaussagen der Reformatoren in Wittenberg, Zürich und Genf – nicht umsonst trägt die Ausstellung den Titel „Gelebte Reformation“. Kritisch könnte man sagen: Eigentlich nichts anderes als eine Selbstverständlichkeit.
Hierzu eine Anekdote: Wenige Tage nachdem die Dauerausstellung am historischen Ort aufgebaut wurde, besuchte eine Abiturientin die Ausstellung und betrachtete intensiv die sechs Thesen der Barmer Erklärung, die ja bekanntlich im inhaltlichen sowie Architektonischen Zentrum der Ausstellung stehen. Sie hörte nicht auf, sie durchzulesen. Sie betrachtete sie solange, dass ich stutzig wurde und sie ansprach. Noch voller Enthusiasmus über ihr ausgiebige Beschäftigung fragte ich sie, welche der sechs Thesen sie denn besonders ansprechen würde. Ihre Antwort: „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was so Besonders an dieser ganzen Erklärung sein soll, dass alle so ein Hype darum machen.“
Nachdem ich mich innerlich wieder gesammelt hatte im Horiziont dieser niederschmetternden Antwort, verstand ich allerdings was sie meinte: Ist es denn etwas Besonderes, wenn eine christliche Kirche, die das Wort Evangelium im Namen trägt bekennt, dass Jesus Christus, „wie er uns in der heiligen Schrift bezeugt wird, das eine Wort Gottes ist, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“? (These 1) Ist es etwas Besonderes, wenn man ausdrücklich nein dazu sagt, dass Art Kirche zu sein nicht davon abhängig gemacht sein darf, wer gerade die politische Mehrheit oder die weltanschauliche Macht hat in der Gesellschaft hat? (These 3) Ist es etwas Besonderes, wenn Christen bekennen, dass Jesus Christus der Herr über alle unsere Lebensbereiche ist? (These 2)
Der Abiturientin damals im Jahr 2014 leuchtete das Weltbewegende dieser Thesen nicht auf den ersten Blick ein. Erst der zweite Blick auf den historischen Kontext der Thesen machte ihr klar, was für einen widerständigen Charakter dieses eigentlich selbstverständliche Bekenntnis der Evangelischen Kirche in einem Staat hatte, der mit Macht und Gewalt daran arbeitet alle Bereiche des Lebens zu bestimmen. Erst dann wird wird auch uns heute klar, wie viel Standhaftigkeit es die Menschen gekostet hat, dem mächtigen und in seiner Art damals auch erschreckend attraktiven Führerkult und dem nationalen Denken zu widerstehen. Wohlgemerkt: Die Synodalen in Barmen sind eine kleine Minderheit nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in ihrer Kirche.
Gott sei es geklagt, dass sich die Situation in den letzten fünf Jahren in einer Weise verändert hat, vor der wir die Augen nicht schließen dürfen. In der Ausstellung finden sie ein Bild des Pfarrhauses, in dem Karl Immer mit seiner Familie lebte. Er war einer der fünf Pastoren der Gemarker Gemeinde, der damals die Synode nach Barmen eingeladen hatte. Eines Nachmittags in den 30er Jahren, versammelt sich ein braune Mob vor seinem Haus und schreibt den Satz „Hier wohnt der Volksveräter Immer“ über gesamte Länge des Hauses, in dem Immer, seine Frau und die sieben gemeinsamen Kinder waren. Worte wie „Volksverräter“, die ich glaubte nur noch auf vergilbten, sich durch Säure auflösenden Dokumenten der Dreißiger Jahre zu finden, sind wieder heute zu hören von manch rechter Stimme, die auch in unseren Parlamenten sitzen.
Wenn wir mit historischem Abstand dieses Bild vom beschmierten Haus sehen, dann müssen uns auch diejenigen vor Augen treten, die das in ähnlicher Form heute erleben. Viele Menschen unter uns kostet es etwas, den um sich greifenden „Rechtsruck“ nicht einen Millimeter mitzumachen. Im Privaten können es Freunde sein, die plötzlich den Kontakt nicht mehr pflegen, weil man „immer“ noch in der Flüchtlingsinitiative im Ort tätig ist und zu viele Menschen in öffentlichen Ämtern erleben eine digitale Belagerung durch aggressive Hassmails und Anrufe und fürchten – wie wir erleben mussten leider nicht ohne Grund – um ihre Sicherheit.
Die Beschäftigung mit der Barmer Erklärung ist kein Selbstzweck. Sie erschöpft sich nicht in abwegigen Fragen, wem sie ideologisch oder konfessionell gehört.
Die sechs Thesen und ihre Verwerfungssätze sind eine stetige Anfrage an alle die, die in der Kirche Verantwortung tragen: Wo finden wir unseren Halt als Kirche – in dem was wir zu sagen haben und dem was wir in die Gesellschaft einbringen. Der Auftrag der Kirche geht nicht darin auf, die Silhouette unserer Städte und Dörfer mit unseren Kirchtürmen zu prägen. Unser Auftrag besteht darin unsere Botschaft in diese plurale Gesellschaft hineinzubringen und sie zu prägen und die Augen und den Mund nicht zu verschließen, wenn wir merken, dass wir als Gesellschaft in eine völlig falsche Richtung gehen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn man eine Ausstellung zu einem der wenigen lichten Momente der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus an einem 1. September eröffnet, wird dieser lichte Moment auch relativiert. Als heute auf den Tag genau vor 80 Jahren deutsche Wehrmachtssoldaten auf polnische Soldaten schossen, Bomber erste Angriffe auf polnische Städte flogen und eine fast sechsjährige Tyrannei des nationalistischen Terrors Menschenleben vernichtete und Europa in Schutt und Asche legte, war die Barmer Theologische Erklärung gerade mal fünf Jahre alt. Nur fünf Jahre nach diesen markanten und wegweisenden Worten zeigt sich, dass es nicht gereicht hat, eine Erklärung gemeinsam zu verabschieden.
Die 139 Synodalen hatten wohl erkannt, wofür ihre Kirche stand, aber ihr Denken und ihre Widerständigkeit, ihr Bewusstsein für Verantwortung hörte für die meisten von ihnen an der Innenseite der alten dicken Kirchenmauern auf. Die Widerständigkeit, die noch da war, wurde schließlich durch den Sog patriotischen Gemeinsinns zu Kriegsbeginn schließlich gänzlich gebrochen. Überkonfessionell konnte man am 2. September für den Krieg, das Opfer der Liebe für Führer, Volk und Vaterland beten. Aber diesem verbrecherischen Staat in die „Speichen fallen“ (Bonhoeffer), das taten die großen und auch mächtigen Kirchen ganz gleich welcher konfessionellen Couleur nicht.
Nun steht die Ausstellung hier in Lemgo. Zahlreiche interaktive Module mit historischen Erinnerungen, die Anfragen an uns heute stellen – stehen im Kirchraum. Sie machen deutlich: Unser Predigen, unser Singen und Beten geschieht auf einem angeschütteten Hügel unserer Geschichte und im Horizont der Verantwortung für die Welt in der wir leben. Wer glaubt, der übernimmt Verantwortung – und die hört nicht jenseits der Kirchenmauer auf.
In der Ausstellung finden Sie keine Helden. Sie zeigt Menschen, die mitten in ihrem Alltag mit ihrem Glauben, ihrer Kirche und ihrer Zeit gerungen haben. An manchen mag man sich Orientierung holen, in andern kann man sich vielleicht durch manch erlebte Brüche im Leben einfinden.
Der Weg durch die Ausstellung fängt bei der Reformation und ihrem Grundimpuls in der Konzentration auf die Auslegung der Bibel und ihrer konstitutiven Bedeutung für die Kirche an. Martin Luther finden sie dort genauso wie auch Huldrych Zwingli, Johannes Calvin und Philipp Melanchton die bereits am Anfang auch in der Pluralität ihrer Theologie deutlich machen, was die Grundpfeiler reformatorischen Denkens sind.
Sodann geht die Konzeption der Ausstellung immer davon aus, dass wir heute nicht ein bisschen klüger sind, als unsere Vorfahren es waren. Vielmehr sind sie wie wir wesentlich von der Zeit geprägt, in der sie leben. Mit welchen Selbstverständlichkeiten wächst man auf? Was prägt die Eigen- und Fremdwahrnehmung? Daher ist der Blick auf die Protestantinnen und Protestanten im Kaiserreich und der Weimarer Republik wichtig. Erst wenn wir in das Denken und Fühlen der Menschen in den ersten drei Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts eintauchen und stückweise begreifen, wird mit aller Deutlichkeit sichtbar, mit welch einer Präzision Hitler und die Nationalsozialisten gezielt bei diesen Menschen um Vertrauen geworben haben.
In der Mitte der Ausstellung dann steht die Bekenntnissynode in Barmen und die Erklärung, die mit letzten handschriftlichen Verbesserungen versehene dichteste Form von reformatorischer Theologie. In der Ausstellung haben wir versucht, Theologie und Geschichte nicht nur zugänglich zu machen, sondern die Besucherinnen und Besucherinnen spielerisch in einer inszenatorischen, mobilen Ausstellungsarchitektur mit auf den Weg zu nehmen. Daher ermutige ich sie zum Beispiel sich mit den Biogrammen der Teilnehmenden der Synode zu beschäftigen. In der dazugehörigen interaktiven Medienstation können sie die Mitglieder nach ihrer Parteizugehörigkeit, Herkunft und vielem mehr durchsuchen.
Leuchtende Dreiecke markieren dann die Zeit des Kirchenkampfs. Sie legen einen Fokus auf die Zeit, in der die Kirche mit sich selbst um eine Richtung kämpft. Eindrückliche Biografien von Standhaften und Wankelmütigen, wie wir aus unserer Perspektive heute sagen würden, sind hier dargestellt. Doch vor jedem zu schnellen Urteil möchte ich warnen und jedem Besucher und der Besucherin die stille Frage mitgeben: Wäre ich tatsächlich heute bereit meine Privilegien für meine Haltung aufzugeben im Wissen darum, was das für Konsequenzen nicht nur für mich sondern auch für meine Familie hat? Im Nachhinein sind Bekenntnisse immer viel einfacher nachzusprechen als in der Situation, in der sie den Unterschied gemacht haben und die Menschen nicht wussten, ob die Geschichte ihnen Recht geben würde.
Doch die Geschichte der Barmer Erklärung geht weiter: In Ost- wie in Westdeutschland hat sie eine je eigene Bedeutung. 30 Jahre nach dem Mauerfall lohnt es sich diese unterschiedliche Geschichte zu entdecken. Die geistliche Kraft, die den unter Druck stehenden, kleinen nicht privilegierten Gemeinden in der DDR zu geschützten Orten der politischen Auseinandersetzung machte. Die durch ihre Botschaft, durch Gebet und Predigten ihren Teil mit dazu bei getragen haben, dass diese Revolution 1989 friedlich geblieben ist. Das der Gründer des Deutschen Evangelischen Kirchentags als größter evangelischen Laienbewegung auch ein Synodaler in Barmen war, ist im Übrigen auch kein gänzlicher Zufall.
Bis heute erstaunt es so manchen Barmer, dass so viele Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern dieser Erde Barmen aufsuchen, um den historischen Ort der Theologischen Erklärung zu besuchen. Gerade im Gespräch mit den Kirchen der Ökumene wird deutlich, wie sehr diese Erklärung am Ufer der Wupper geschrieben ihre Strahlkraft besonders in den Kirchen entfaltet hat, die Unterdrückung erleben und gegen die Korrumption ihrer Botschaft kämpfen. So wie in Südafrika, in dem Menschen erleben mussten, wie die Apartheit theologisch und kirchlich legitimiert wurde und die Grundlage eines Unrechtstaates war. Der Struktur des Barmer Bekenntnisses folgend, verfassten einige Vertreter der Nederduitse Gereformeerde Sendingskerk in Belhar ein Bekenntnis, indem sie das Bekenntnis zu Gleichheit und Gerechtigkeit zum status confessionis machten. Das wird zum Ende der Ausstellung beleuchtet.
Hier in der Lippischen Landeskirche kann man erleben, dass diese Bekenntnistradition keine Einbahnstraße ist: Ihre Beschäftigung mit dem Belhar Bekenntnis in der gesamten Landeskirche zeigt, dass wir aus dieser Glaubenstradtion lernen können und sie uns Aufmerksam macht auf Missstände bei uns. Dort wo Feindschaft und Hass zwischen Menschen gesät wird, können wir als Kirche Jesu Christi, die aus seiner Versöhnung lebt, nicht still sein. Ich finde es ein wegweisendes Zeichen, dass Sie sich hier damit beschäftigen, vom Glaubenszeugnis der Menschen in Südafrika lernen und prüfen es als Text wie auch immer in ihre Verfassung aufzunehmen.
Ich wünsche Ihnen, dass sie sich in den inhaltlichen Diskussionen nicht zu lange mit dem konfessionellen Glasperlenspiel des theologischen Verständnisses von Bekenntnissen aufhalten, sondern zu dem Punktn finden, bei dem es bei diesen Glaubenszeugnissen geht: Wo finden wir als Christenmenschen Halt in den Fragen unserer Zeit. Wo bekommen die die Kraft für eine Haltung her, die wir weitergeben können. Wo finden wir das Fundament, auf dem wir auch dann noch stehen können, wenn der Wind des Maiinsteams sich gegen die Kirche dreht. Nur wer weiß wofür er steht, so sagte einmal ein Kollege, der weiß wann er widerstehen muss.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich hoffe, dass die Ausstellung zur Barmer Theologischen Erklärung, ihrem Hintergrund und ihren Auswirkungen sie zum Nach- und Weiterdenken bringt. Denn letztlich macht die Beschäftigung mit der Geschichte doch nur Sinn, wenn sie uns heute miteinander ins Gespräch bringt über die Frage, wo wir aus Glauben heraus Verantwortung übernehmen für die Gesellschaft in der wir leben.
Ich freue mich, dass Sie da sind und danke für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit.
Martin Engels