Betroffenheit und Toleranz

Einspruch! - Mittwochs-Kolumne von Georg Rieger


Die persönliche Nähe zu Konflikten radikalisiert und steht plötzlich in Gegensatz zu toleranten Haltungen von Freunden und Bekannten. Ein fast unlösbarer Zwiespalt entsteht so. Was also tun?

Immer wieder ist es zu beobachten und im Moment zum Beispiel in den Konflikten in Palästina und Kurdistan: Menschen, die sich vor Ort ein Bild machen und mit Opfern zusammentreffen, werden in ihren Meinungen eindeutig. Sie können die Situation besser beurteilen und kennen die eigentlichen Hintergründe. Die Daheimgebliebenen dagegen sind schlecht oder sogar falsch informiert und abgestumpft gegen das Leid in der Ferne.

Es gibt wahrlich keinen Grund, sich über solches Besserwissen lustig zu machen oder sich darüber zu ärgern, denn es ginge wohl jedem von uns so – jedenfalls tendenziell. Je näher wir an Situationen dran sind, desto betroffener sind wir und auch bereit, uns zu für Menschen einzusetzen.

Und dennoch: ich tue mich mit solcher Betroffenheit mir bekannter oder gar befreundeter Menschen schwer. Besonders dann, wenn dadurch meine Toleranz in Frage gestellt wird oder gar die zarten Pflänzchen der Toleranz in unserer Gesellschaft. Christliche Minderheiten in arabischen Ländern halten uns zum Beispiel für hochgradig naiv, weil wir den Muslimen in der Ausübung ihres Glaubens zunehmend Freiheit lassen. Sie sehen darin das Vordringen einer Macht, die ihnen die Luft zum Atmen nimmt. Und das ist durchaus nachvollziehbar.

Ähnlich ist es zum Beispiel mit Menschen, die in Gaza die Situation der Palästinenser erlebt haben oder dorthin persönliche Beziehungen pflegen. Da wirken die feinen politisch korrekten Differenzierungen und theologisch ausgefeilten Bekenntnisse hierzulande geradezu zynisch.

Aus der Betroffenheit heraus wirken Toleranz und Bedenklichkeit weltfremd.

Was also tun? Wie sich verhalten?

Zunächst gibt es tatsächlich keinen Grund zur Überheblichkeit. Ein Wissensrückstand besteht ja tatsächlich meistens. Insofern nehme ich mir immer vor, gut und interessiert zuzuhören und kritische Nachfragen zunächst zurückzustellen.

Doch wenn ich dann aufgefordert werde, Position gegen die vermeintlichen Unterdrücker und Kriegsgegner zu beziehen, dann regt sich bei mir Widerstand. Selbst wenn mich das lieben Menschen gegenüber in Loyalitätskonflikte bringt und ich schon die Befürchtung habe, dass ich hin und wieder zu Unrecht die Solidarität verweigere.

Es gibt in jedem Konflikt verschiedene Perspektiven. Nicht nur die beiden der Konfliktparteien, sondern auch unterschiedliche aufgrund der Entfernung, der politischen Kultur und der geschichtlichen Einordnung. Diese Unterschiede in der Sichtweise sind von den jeweils anderen schwer zu akzeptieren. Aber sie sind menschheitsgeschichtlich und globalisierungstechnisch ein Segen. Denn man stelle sich einmal vor, es würden in allen einigermaßen bekannten Konflikten der Welt alle einigermaßen informierten Menschen Position beziehen, wie man es aus engagierter Sicht von ihnen erwartet. Was wäre dann wohl los auf der Welt?

Ich glaube, mit Vernunft wird man dieser Problematik nicht Herr. Es gilt, eine gewisse Gelassenheit bei Anderen zu akzeptieren – ja sogar als einen Segen zu betrachten. Toleranz ist zu einem Teil ein bewusster und anstrengender Prozess, zum Teil aber auch das Ergebnis von Gleichmut und Gemütsruhe. Und wie immer ist das richtige Maß der Schlüssel zum Glück.

Im Gegensatz zu östlichen Religionen und Weltanschauungen, die den Gleichmut idealisieren, sieht ihn das Christentum als einen Grund, Gottes Gnade zu erbitten. Denn dass wir durch diese schuldig werden, ist klar. Wem gegenüber, das bleibt allerdings das Geheimnis, dem wir zeitlebens nicht auf die Schliche kommen.

„Jesses ist das alles kompliziert!“

Georg Rieger