Früher war alles besser?

Predigt zu 2. Mose,16

Die Israeliten sammeln die Manna in Töpfen und Körben © Wikicommons

Von Gudrun Kuhn

„Früher war alles besser!“ Kriegen Sie auch lange Ohren, wenn Sie das hören?

„Früher war alles besser. Die D-Mark stabiler als der Euro. Kein Gender-Getue. Benzin billig zu haben. Und es spielte eine Nationalmannschaft aus echten Deutschen. Früher war alles besser.“

2In der Wüste rebellierte die ganze Gemeinde gegen Mose und Aaron. 3Die Israeliten sagten zu ihnen: »Hätte der Herr uns doch in Ägypten sterben lassen! Dort saßen wir an den Fleisch­­töpfen und konnten uns satt essen. Jetzt habt ihr uns in diese Wüste geführt, wo wir alle vor Hunger umkommen werden.«

„Früher war alles besser!“

Früher redeten nur die Ewig-Gestrigen so. Jetzt aber orientieren sich immer mehr junge Menschen an den Zeiten ihrer Großväter und Urgroßväter. War also früher doch alles besser? Früher, als ich jung war und wir nicht im Traum daran dachten, dass früher alles besser gewesen wäre. Wie in einer Wüstenzeit fühlen sich heute viele Jugendliche und junge Erwachsene. Konfrontiert mit unlösbar erscheinenden Problemen. Ohne sichere Perspektiven für die Zukunft. Voller Misstrauen gegen die ‚politischen Eliten‘, wie einige unsere Abgeordneten und Regieren­den verächtlich nennen.

„Früher war alles besser! Das wird man doch noch sagen dürfen!“

2In der Wüste rebellierte die ganze Gemeinde gegen Mose und Aaron. 3Die Israeliten sagten zu ihnen: »Hätte der Herr uns doch in Ägypten sterben lassen! Dort saßen wir an den Fleisch­­töpfen und konnten uns satt essen. Jetzt habt ihr uns in diese Wüste geführt, wo wir alle vor Hunger umkommen werden.«

Die Fleischtöpfe der Ägypter … -

Ja hat denn das Volk in der Wüste alles vergessen, was in Ägypten passiert war? Oder ist das schon die nächste Generation, die die Erzählungen der Älteren einfach nicht mehr hören will?

Sie zwangen sie mit Gewalt zur Arbeit und machten ihnen das Leben zur Qual. Sie mussten als Sklaven Ziegel aus Lehm machen und sich auf den Feldern plagen. Zu all dem zwang man sie mit Gewalt. [… Zuletzt] befahl der Pharao seinem ganzen Volk: »Jeden neugeborenen Jungen werft in den Nil!

„Früher war alles besser!“

„Nicht alle Mitglieder der SS waren Verbrecher. Da gab es doch Männlichkeitsideale und Freundschaft. Nicht alles war schlecht im Dritten Reich. Frauen hatten ihren Platz in der Familie. Ein paar Watschen für freche Kinder haben niemand aufgeregt. So ein kleiner Hitler wäre gut: Wohnungen für alle, Geld für Autobahnen,  keine Ausländer ...“

„Früher war alles besser!“

Wer weiß, ob das überhaupt stimmt mit den KZs. Waren halt Arbeitslager. Und die Juden – das sieht man doch: die machen sich schließlich überall unbeliebt. Früher war jedenfalls vieles besser. Kein Rechtsstaat – meinetwegen. Aber alles für Deutschland …“

Ach Gott – schick Vernunft herab!

11Der Herr sagte zu Mose: 12»Ich habe gehört, wie die Israeliten rebellierten. Sag zu ihnen:
In der Abenddämmerung werdet ihr Fleisch essen und am Morgen von Brot satt werden. Da­ran werdet ihr erkennen, dass ich der Herr, euer Gott, bin.«
13Am Abend kamen Wachteln und bedeckten das Lager. Am Morgen lag Tau rings um das Lager. 14Als der Tau weg war, lag auf dem Boden der Wüste etwas Feines. Es war körnig und fein wie der Reif auf der Erde. … 31Die Speise war weiß wie Koriandersamen und schmeckte wie Honigkuchen.

Die Israeliten nannten sie »Manna«. Nahrung zum Überleben in der Wüste. Hilfe in Bedräng­nis und Ausweglosigkeit. Ein Weg in die Zukunft.
Ach Gott – lass es auch für uns regnen in der Wüste!

Lehrerinnen und Erzieher, Sozialarbeiter und Familienhelferinnen, vertrauens­würdige Abgeordnete, ernsthafte Influencerinnen und vernünftige Blogger. Politisch Ver­ant­wort­liche, die mehr zu bieten haben als die immer gleichen Alibi-Reden gegen Antisemitismus und die immer gleichen Empörungs-Sprüche gegen Nazi-Parolen.. Wir brauchen Wachteln und Manna. Wohnungen und Spielplätze, angemessene Löhne und breite Bildungschancen, umweltfreundliche Heizungen und gesunde Lebensmittel für alle und nicht nur für die Betuchten.

Aber jetzt ehrlich: keine Wachteln und kein Manna in Sicht!  Warum sollen wir uns mit dieser uralten Geschichte auseinandersetzen?

Sie werden staunen, wie aktuell die gelesen werden kann! Vielleicht hilft sie uns ein wenig aus unserer Wüsten-Resignation. Am Anfang steht ein Erfahrungsbericht über Wüstenwandernde, die überlebt haben dank der Schildläuse. Die saugen aus Tamarisken und anderen Sträuchern beim Morgentau Saft für ihre Larven. Was davon auf den Boden tropft und zu kleinen Kugeln trocknet, wird von den Beduinen aufgesammelt, bevor es durch die Sonne vergärt. Es schmeckt honigsüß. Ein veganes Essvergnügen.

Die spätere Leserschaft in den Dörfern und Städten wusste von diesem Wüstenphänomen nichts Genaues mehr. Also gaben sie der Überlieferung einen religiösen Trend: Gott hatte geboten, jeden Morgen neu zu sammeln und nichts aufzuheben. Und prompt verdarb das Wundergeschenk zur Strafe für Ungehorsame, die sich nicht an das Verbot hielten.

Mose sagte zu ihnen: »Das ist das Brot, das der Herr euch zu essen gibt. … »Niemand soll etwas davon bis zum Morgen aufheben.« 20Es gab aber einige, die nicht auf Mose hörten und etwas bis zum nächsten Morgen aufhoben. Aber dann war es von Würmern befallen und stank, und Mose wurde zornig auf sie. 21Morgen für Morgen sammelte jeder so viel, wie er zum Essen brauchte. Doch sobald die Sonnenhitze aufkam, zerschmolz es.

Die Priester setzten dann noch eine weitere Deutung drauf: An einem Sabbat durfte natürlich nichts gesammelt werden, aber wunderbarer Weise fiel tags davor die doppelte Menge vom Himmel und – verdarb nicht über Nacht. Belohnung für die, die sich an die religiösen Gebote halten.

Morgen ist Ruhetag, der heilige Sabbat für den Herrn … Alles, was übrig bleibt, legt beiseite
und hebt es auf bis morgen. 24Da legten sie es bis zum nächsten Morgen beiseite, wie Mose geboten hatte. Es stank nicht, und es waren auch keine Maden darin. 25Mose sagte: »Esst das heute! Denn heute ist der Sabbat für den Herrn. Heute werdet ihr auf dem Feld nichts finden. 26Sechs Tage lang sollt ihr sammeln, aber am siebten ist der Sabbat. Da findet ihr nichts.« 27Trotzdem gingen am siebten Tag einige vom Volk hinaus. Sie wollten sammeln, aber sie fanden nichts. 28Da sagte der Herr zu Mose: »Wie lange weigert ihr euch, meine Gebote und Weisungen zu halten? 29Seht, der Herr hat euch den Sabbat gegeben! Darum gibt er euch am sechsten Tag Brot für zwei Tage. Jeder soll bleiben, wo er ist! Am siebten Tag soll niemand seinen Platz verlassen!« 30So ruhte das Volk am siebten Tag.

Die alte ganz konkrete Wüstenerfahrung wird nach und nach zur moralischen Erbauung. Gott hilft aus Bedrängnis und Überlebensangst. Aber: er hilft nur denen, die sich ganz auf ihn verlassen und seinen Weisungen treu gehorchen. Das ist schließlich der Dank, den die aus der Knechtschaft Befreiten ihm schulden. So lautet jetzt die Botschaft.

Nun gut, biblische Pädagogik – ein wenig mit dem Holzhammer … Und auf den ersten Blick wenig sinngebend für unsere Situation. Speisegebote und -verbote werden bei uns nicht von den Kanzeln verkündet. Und ich will jetzt nicht gewaltsam eine Brücke schlagen zu unserem Verhalten bei der Produktion und beim Konsum von Lebensmitteln. Um da vernünftig und umweltbewusst zu handeln, braucht es keine biblischen Geschichten.
Aber die vielschichtige Erzählung weiß ja noch von anderen Wundern .

Mose sagte zu ihnen: »Das ist das Brot, das der Herr euch zu essen gibt. 16Der Herr hat geboten: Sammelt davon so viel, wie jeder zu essen braucht. Einen Krug pro Kopf sollt ihr holen, jeder so viel wie Personen zu seinem Zelt gehören.« 17Das taten die Israeliten. Der eine sammelte viel, der andere wenig. 18Dann maßen sie nach, was jeder gesammelt hatte. Wer viel gesammelt hatte, hatte nicht zu viel, und wer wenig gesammelt hatte, nicht zu wenig. Jeder hatte so viel gesammelt, wie er zu essen brauchte.

Das Prinzip kenne ich doch von irgendwo her. ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach sei­nen Bedürfnissen!‘ Ach so – das ist ja von Karl Marx. Aber es erinnert auch an das Gleichnis Jesu von den Arbeitern im Weinberg aus der Lesung. Am Ende des Tages erhielten alle den gleichen Lohn, den sie für ihren Lebensunterhalt brauchten, ganz gleich, wie viele Stunden sie geareitet hatten.

Nicht zu viel und nicht zu wenig haben. Einfach das, was alle zu einem guten Leben brauchen. Das wäre doch ein gesellschaftliches Zukunftsprogramm. Bei den Arbeitern im Weinberg kommt das allerdings nicht so gut an. Die beschweren sich über die Ungleichbehandlung. Nichts davon in der Wüstengeschichte. Alle werden satt, richtig satt. Ganz gleich, ob sie in den Augen der anderen Höchstleistungen vollbringen können oder nichtl

Das ist das eigentliche Wunder. Denn genau genommen sind Wachteln und Manna doch nichts Besonderes. Die alten Beduinen hätten vielleicht gelächelt über die Erzählung. Die Wüste birgt Nahrung, wenn man nur aufmerksam ist und nicht von Fleischtöpfen träumt. Mose und Aaron freilich lehren darüber hinaus, dass alle gute Gabe von Gott kommt. Und auch, dass der Mensch nicht vom Brot alleine lebt, sondern von einer guten Gemeinschaft. In Freiheit und Rücksichtnahme.

Aber daran muss Jesus später auch seine Zuhörerschaft eindringlich erinnern. Auch sie warteten auf Wunder. Auch sie meinten, dass früher alles besser gewesen sei.

Sie sagten zu Jesus: Was für ein Zeichen tust denn du, dass wir sehen und dir glauben können? Unsere Väter haben das Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben steht: Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen. Da sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch, nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Denn Gottes Brot ist dasjenige, das vom Himmel herabkommt und der Welt Leben gibt. Da sagten sie zu ihm: Herr, gib uns dieses Brot allezeit! Jesus sagte zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht mehr Hunger haben, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben. (Johannes 6,30-35)

Einen weiten Weg hat das Himmelsbrot aus der Wüste bis hierher genommen. Naturkundlich beschreibbares Wüstenphänomen – Gottesgabe in der Not – Zeichen für religiöse Identität – Weisung für soziales Miteinander.

Und jetzt bei Johannes … verflüchtigt sich da etwa alles ins Symbolische? Christus verkündigt sich als Brot des Lebens. Vom Himmel gekommen wie das Manna in die Wüste. Das wahre Brot, nicht das wirkliche. Wenn wir die Worte hören, fühlen wir uns ans Abendmahl erinnert. Christus – Brot des Lebens. Oder an die Vision des himmlischen Mahls am Ende der Zeit.. Nie mehr hungern. Nie mehr Durst haben …

Haben unsere natürlichen Bedürfnisse da noch einen Platz? Unsere ganz konkreten Über­lebensängste in der Wüstenzeit. Von allen Seiten bedrängt durch Umweltvergessenheit und Rechtspopulismus, durch Krieg und Terrorismus, durch politische Hilflosigkeit.. O Gott – ein Tau vom Himmel gieß, im Tau herab o Heiland fließ! So singen wir in der Adventszeit. Christus, das Manna, das vom Himmel kommt. Christus, der Erwählte Gottes.

Er ist Mensch geworden: Jesus von Nazaret. Von einer Frau geboren und als Jude seiner Zeit er­zogen, wie Paulus sagt. Wahrer Mensch. Kein Symbol. Einer, über den seine engsten Vertrauten sehr lebenswirkliche Erinnerungen aufgezeichnet haben. Einer, der nicht verkündet hat, dass früher alles besser war. Und nicht, dass die Fleischtöpfe in einem Unrechtsstaat erstrebemswerter sind als das mühevolle Ringen um Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit für alle.

Was er sagte und tat, war nicht rückwärtsgewandt, sondern ganz neu: unerwartet und unerhört. Für viele deshalb ungehörig und gefährlich. Eine weisheitshungrige Frau hat er bei sich sitzen lassen, anstatt sie in die Küche zu schicken. Nicht nach ihrer Herkunft oder ihrem Status hat er die Leute beurteilt, sondern nach ihrem moralischen Handeln. Menschen ohne Selbstwertgefühl hat er zugesprochen, dass sie von Gott geliebt seien. Das selbstgerechte Regiment der Priester hat er unterwandert. Mit Außenseitern hat er zu Tisch gegesessen. Von einer Ausländerin hat er sich zu trinken geben lassen und über Religion diskutiert.

Nein, sowas hatte es früher nicht gegeben! So etwas war bedrohlich. So etwas musste hart bestraft werden. Mit ihm, mit Jesus, gab es kein Zurück in eine verklärte Unrechtsvergangenheitl. Aber auch keine resignative Gleichgültigkeit gegenüber Fehltentwicklungen in der Gegenwart. Dabei sind seine Gleichniserzählungen keine Gebrauchsanweisungen. Kein Heizungsbauer kann es sich leis­ten, ungleiche Lohnvereinbarungen abzuschließen. Da hätte er sofort die Gewerkschaft auf dem Hals. Zurecht, meine ich. Nein biblische Erzählungen sind keine Gebrauchsanweisungen, die man einszueins umsetzen könnte.  Sie sind so etwas wie Stoppschilder auf eingefahrenen We­gen.

Wunder passieren da. Figuren verhalten sich völlig paradox. Die vertraute gesellschaftliche Ordnung gerät durcheinander. Fragwürdig wird, was immer so war und als unveränderbar gilt. Die Krüge der Manna-Sammler sind alle gleich voll. Und die Arbeiter im Weinberg bekommen alle den gleichen Lohn. Haltet ein – sagen die alten Geschichten. Überprüft eure Gewohnheiten und Maßstäbe! Unterbrecht den Leistungsdruck! Berücksichtigt vorrangig die Bedürfnisse der Menschen! Lasst die Gier nach Gewinnmaximierung! Haltet ein! Und denkt nach, wie ihr eine gute Zukunft für alle schaffen könnt. Einfache Lösungen sind nicht in Sicht. Anders als bei populistischen Parolen. Die verlocken uns mit Fleischtöpfen. Und verharmlosen Unrecht und Unterdrückung von früher. Haltet ein – sagen die alten Geschichten. Und biegt in eine neue Richtung ein. Ihr habt die Freiheit dazu. Ägypten liegt hinter euch.

Das lese ich in der Manna-Erzählung:

Ja, wir leben nicht im Rosengarten. Unsere Aufgaben, die Wüste zu durchqueren, sind groß, oft fühlen wir uns überfordert. Aber wir leben in geschenkter Freiheit, in einem Rechtsstaat, der Raum lässt für offene Diskussionen, für vielfältige Informationen, für Streit und Kom­pro­mis­se und für die Kreativität mutiger Bürgerinnen und Bürger. Früher war nicht alles besser. Als Demokratinnen und Demokraten gestalten wir die Zukunft. Gott ist mit uns auf dem Weg. Und er schenkt uns nicht nur das tägliche Brot zum Überleben, sondern auch das Brot zum Leben: Rat und Weisung. Die biblischen Autoren haben sie vor langer Zeit formuliert und Jesus hat sie ein- für allemal bestätigt: 

»Du sollst … Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken.« (5. Mose,6)  Und: »Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.« (3. Mose 19,18)

AMEN


Gudrun Kuhn