Vermeintliche Dispositionen zum Verbrechen
Barth im Gespräch mit Gefängnisseelsorgern
»Es mag wohl, sagen wir: nach menschlichem Erkennen und Ermessen, unausrottbare Dispositionen geben – durch Vererbung oder durch das soziale Milieu oder durch die individuelle physisch-psychische Konstitution eines Menschen bedingte krankhafte Dispositionen zu bestimmten Verbrechen, d. h. zu Handlungen oder Handlungsweisen, welche den betreffenden Menschen nun in mehr oder weniger schweren Konflikt mit dem Gesetz bringen. Ich sage: es mag so sein. Man müsste wohl Mediziner, Soziologe und Psychologe sein, um hier eine ganz bestimmte Antwort zu geben: es gibt das. Ich maße mir nicht an, zu sagen: es gibt das – und auch nicht: es gibt das nicht, sondern ich sage nur: es mag wohl so sein.
Eines ist sicher (Punkt zwei): An ›unausrottbaren‹ Dispositionen – nun nicht gerade zum Verbrechen, aber zu Verhaltens- und Handlungsweisen anderer, auf den ersten Blick vielleicht harmloserer, im Grunde vielleicht noch viel gefährlicherer An leiden wir alle. Bei dem einen mag es ein unausrottbarer Machttrieb sein, bei dem anderen eine unausrottbare Ichbezogenheit und beim dritten eine unausrottbare eine unausrottbare Theatralik und beim vierten eine unausrottbare Gschaftelhuberei [=Aktivismus] und beim fünften eine unausrottbare Geistesträgheit … Ich will nicht fortfahren. Aber wer von uns trägt nicht irgendeine solche unausrottbare Disposition in sich?« (Karl Barth, Gespräch mit Strafanstaltsseelsorgern (11.5.1960), in: Gespräche 1959-1962 (GA IV.25), 61f)