„‘Du Opfer‘ ist ein derzeit gängiges Schimpfwort unter Jugendlichen. Es grenzt aus und verweigert Anteilnahme und Solidarität: Wem es schlecht geht, der ist eben irgendwie selbst schuld.
Selbst schuld: Das scheint mitunter auch der Grundton in der Auseinandersetzung mit der Finanzkrise in Griechenland zu sein. Wer so spricht, lenkt von der Tatsache ab, dass die europäischen Staaten insgesamt seit Jahrzehnten weit über ihre Verhältnisse gelebt und sogar von der Verschuldung anderer Länder profitiert haben. Selbst schuld: als ob wir mit Schuldzuweisungen die Probleme Europas lösen könnten.
Je komplizierter die Welt für uns aussieht, desto anfälliger werden wir für einfache Antworten und für leichtfertige Schuldzuweisungen, sei es auf den Finanzmärkten, sei es auf dem Schulhof: ‚Du Opfer‘.
Karfreitag wirft ein anderes Licht auf diese Themen: auf Schuldzuweisungen, Selbstrechtfertigung und Opfer. An Karfreitag hat sich Jesus Christus selbst zum Opfer gemacht. Im Predigttext zum Karfreitag im Hebräerbrief heißt es im 9. Kapitel (Vers 26): ‚Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben‘.
Sünde ist für moderne Menschen ein sperriges Wort. Christinnen und Christen verstehen Sünde grundsätzlich als das Verhängnis der Gottferne, die Abkehr von Gott, den Versuch des Menschen, selbst wie Gott sein zu wollen. Wer sich selbst letzte Instanz ist, muss Sorge für sich tragen, notfalls auch gegen den Anderen. Das Eingeständnis von Scheitern oder Schuld fällt umso schwerer, je mehr wir darauf angewiesen sind, die Fassade der Selbstrechtfertigung zu wahren. Wie viel einfacher ist es da, sich Opfer zu suchen: Schuld sind immer die anderen.
Aber Karfreitag durchkreuzt dieses Spiel der Schuldzuweisung und Schuldabwälzung. An Karfreitag wird deutlich: Gott geht den Menschen hinterher, hinein ins Dunkle, auch in seine Schuld, in das Leid, in die Einsamkeit. Zum Menschsein gehören Scheitern, Schmerz und Versagen. Gottes Liebe nimmt auch die dunklen Seiten der Welt und der Menschen auf sich, um zu heilen und zu versöhnen. Jesus geht hinein in diese Finsternis, er erleidet den Tod – und er überwindet ihn.
Der Sieg am Kreuz ist keine triumphale Erfolgsgeschichte – jedenfalls nicht nach den gängigen Maßstäben der Welt: Das Heil Gottes für die Welt ist begründet in einem leidvollen und schmachvollen Tod am Kreuz. Und wir glauben: Dieses Ende ist ein neuer Anfang. Gewalt, Unrecht und Tod haben nicht das letzte Wort über den Gottessohn. Deshalb haben Gewalt, Unrecht und Tod auch nicht das letzte Wort in unseren Menschengeschichten.
Wir können uns auch den dunklen Seiten des Lebens stellen, ehrlich und ohne Beschönigung. Wir brauchen keine Opfer mehr, um uns selbst zu rechtfertigen. Wir können uns solidarisch zeigen mit Menschen, die Opfer sind oder zu Opfern gemacht werden. Jesu Opfer am Kreuz macht uns frei: Wir brauchen keine leichtfertigen Schuldzuweisungen mehr."
Hannover, 4. April 2012
Pressestelle der EKD
Silke Römhild