Buchkritik zu:
Mark Braverman
Verhängnisvolle Scham.
Israels Politik und das Schweigen der Christen
Güterloh 2012
Amerikanische Originalausgabe: Fatal Embrace, 2010
von Rainer Stuhlmann
Viele meiner Freundinnen und Freunde in Deutschland, mit denen zusammen ich mich seit über vierzig Jahren für Gerechtigkeit und Frieden an vielen Stellen dieser Welt engagiert habe, sind begeistert von diesem Buch. Ich nicht. Die wenigsten von ihnen waren je in Israel oder Palästina, manche nur jeweils einige Tage, so dass sie Mark Braverman abnehmen, was er behauptet. Ich bezweifel vieles.
Was seit Jahren in den von Israel besetzten Gebieten geschieht, ist himmelschreiendes Unrecht. Daran besteht kein Zweifel, und darüber gibt es mit dem Autor keinen Streit. Seinen leidenschaftlichen Plädoyers für Gerechtigkeit kann ich nur beipflichten. Gelegentlich entsteht der Eindruck, hier erklärt wieder ein Amerikaner vor der Mauer seine Solidarität mit den Unterdrückten; diesmal ruft ein amerikanischer Jude in Palästina „Ich bin ein Palästinenser.“ Das ist mehr als ehrenwert.
Aber schon, dass er den Nahostkonflikt auf einen israelisch-palästinensischen Konflikt reduziert, lässt ein falsches Bild entstehen. Wer leugnet oder bagatellisiert, dass Israel von Anfang an und bis heute ein bedrohter Staat ist, verkennt die Realität oder redet sie sich schön. Wenn man Iran, Hisbollah und Hamas ignoriert, ist es leicht, Israel auf die Rolle des Aggressors zu reduzieren. Der Vergleich mit dem Apartheidstaat Südafrika führt in die Irre. Südafrika war nie durch eine machtvolle Koalition aller seiner Nachbarn bedroht, die, so verschieden sie auch sind, darin geeint waren, diesen Staat von der Landkarte zu radieren.
Was die Lektüre des Buches so ärgerlich macht, sind seine vielen Halbwahrheiten. Seit über zwanzig Jahren sind die zionistischen Mythen um Israels Anfänge 1948/9 entmythologisiert. Da muss uns Mark Braverman nicht belehren. Sie werden in Israel offen und kontrovers diskutiert. Diese Aufgabe steht für die arabischen Mythen noch aus. Ja, es sind über vierhundert arabische Dörfer zerstört worden, viele ihrer Bewohner wurden getötet oder vertrieben. Das ist Unrecht. Aber wer das „ethnische Säuberung“ nennt, ohne zugleich zuzugeben, dass es das auch auf der anderen Seite dieses Krieges gegeben hat, spricht die Unwahrheit. Nicht nur aus Jerusalem und Hebron, aus Nablus und Gaza wurden die Juden vertrieben oder getötet. Am 15. Mai 48 brannte auch die Synagoge in Aleppo und an vielen anderen Orten in der arabischen Welt.
Ärgerlicher noch als die politischen Halbwahrheiten sind die theologischen. Was Mark Braverman hier als Judentum verkauft, das steht diametral im Gegensatz zu dem, was wir von Juden in Europa und Israel und Amerika gelernt haben. Es überzeugt mich ebenso wenig, wie wenn jemand, der irgendeine katholische Erziehung genossen hat, mir weißmachen will, was katholisch ist, wenn das ungefähr allem widerspricht, was mich die übrige katholische Welt lehrt.
„Jüdisches Erwählungsbewusstsein“ macht er als das Grundübel aus, das Frieden und Gerechtigkeit in Nahost verhindert. Es mag ein exklusives Erwählungsverständnis geben, aber jüdisch ist das gerade nicht, so haben wir gelernt. Schon der Tenach schärft ein, dass das Wissen, erwählt zu sein, niemals heißt „Wir allein und nicht die anderen“, sondern immer „wir, ohne dass wir es verdient haben, und so auch alle anderen“. „Erwählt sein“, so haben wir vom Judentum gelernt, heißt „ohne Verdienst geliebt zu werden“, und diese Liebe gibt’s nie exklusiv.
Die jüdische „Kultur des Anderssein“, die sich über Jahrtausende allen Assimilationsversuchen widersetzte, erklärt er für ein weiteres Hindernis im Friedensprozess in Nahost. Es mag die Arroganten geben, die meinen, aus ihrem Anderssein Privilegien ableiten zu können. Aber wir lernen schon in der Grundschule, dass Hochbegabte nicht besser als andere und solche mit einer störenden Behinderung nicht schlechter als andere sind, sondern beide „anders als die anderen“ sind. Diese Grunddifferenzierung scheint Mark Braverman gar nicht zu kennen, wenn er im berechtigten Kampf gegen israelische Privilegansprüche die jüdische Kultur des Anderssein pauschal angreift und destruieren will.
Engstirniger jüdischer Nationalismus, begründet in der beschränkten Sicht einer „Stammesreligion“ („tribal religion“, die Nazis nannten das „die Religion der orientalischen feilschenden Viehhändler“) sei ein weiterer Störfaktor des Verständigungsprozesses in Nahost. Demgegenüber empfiehlt er das Christentum als internationale, interkulturelle, universale Liebesreligion. Nein danke, lieber Bruder, da kommen wir doch vom Regen in die Traufe. Was das Christentum universal gemacht hat, ist seine jüdische Tradition. Dass Abraham zum Vater vieler Völker wird, das ist nicht die Erfindung der christlichen Weltreligion, das steht in der Bibel der Juden.
Seine schärfsten Attacken reitet Mark Braverman gegen uns, die Christen, die den Paradigmenwechsel im Verhältnis von Christen und Juden vollzogen haben, die wir gelernt haben, dass die Kirche nicht an die Stelle Israels getreten ist, sondern Israel bleibend erwählt ist. Das nennt Braverman „verhängnisvolle Umarmung“ („fatal embrace“). Sie macht er dafür verantwortlich, dass wir uns nicht genügend für die leidenden Palästinenser einsetzten. Natürlich genügt es nicht, was wir tun, aber darüber lassen wir einen anderen entscheiden. Uns jedenfalls haben diese Erkenntnisse nicht verboten, für die Rechte der Menschen in den von Israel besetzten Gebieten einzutreten. Uns hat das nicht zum Schweigen gebracht.
Ein wenig kommt mir seine Argumentation vor wie die der chauvinistischen Männer, die uns sagen, dass wir jetzt genug mit den Frauen geflirtet hätten („Fatal Embrace“!) und es Zeit wäre zurückzukehren zu den alten Klischees, nach denen die Frauen in der Kirche zu schweigen hätten und die Frauenordination schleunigst abzuschaffen wäre. „Nein, Herr Braverman, zu den alten Antijudaismen, die Sie uns empfehlen, kehren wir nicht zurück. Der Paradigmenwechsel im Verhältnis von Christen und Juden, ist ein point of no return. Es gibt für uns kein Zurück zur „Enterbungstheorie“ („replacement theology“) Ihrer palästinensischen Freunde.“
Bravermans Unverschämtheiten werden noch getoppt durch die deutsche Übersetzung seines Buches mit einem eigenen Vorwort und einem neuen Titel, der bewusst auf deutsche Ressentiments zielt. Aus „Fatal Embrace“ wird „Verhängnisvolle Scham“. Braverman unterstellt uns Christen in Deutschland, dass wir aus Scham zu den Menschenrechtsverletzungen Israels schweigen. Wie wenig Braverman sich in der deutschen Situation auskennt, zeigt, dass er das ausgerechnet Bertold Klappert, den er als einzigen exemplarisch vorführt, vorwirft, während palästinensische Theologen gerade auf ihn ein Loblied singen wegen seines jahrzehntelangen Engagements für die Rechte der Palästinenser.
Schweigen aus Scham, das mag es gegeben haben. Und natürlich war die Shoa der Anlass dafür, im Verhältnis von Christen und Juden umzukehren. Gerade in diesem Prozess der Umkehr aber haben wir gelernt, Israel zu kritisieren, ohne es zu verteufeln. Wir lassen uns den Blick dafür nicht trüben, dass Israel mehr ist als seine Siedler, Soldaten und Polizisten auf der Westbank.
Eine differenzierte Sicht des Nahostkonflikts gelingt uns Deutschen vielleicht deshalb mehr als Mark Braverman, weil wir dankbar dafür sind, dass es 1945 demokatische Europäer und Amerikaner gab, die zwischen Deutschen differenzieren konnten, statt sie zu verteufeln, und gerade so dem Aufbau und der Stärkung eines neuen demokratischen Deutschland gedient haben.
Rainer Stuhlmann, Nes Ammim 2012
Mark Braverman
Verhängnisvolle Scham.
Israels Politik und das Schweigen der Christen
Güterloh 2012
Amerikanische Originalausgabe: Fatal Embrace, 2010
Leseprobe auf der Internetseite des Verlags:
http://www.randomhouse.de/Buch/Verhaengnisvolle-Scham-Israels-Politik-und-das-Schweigen-der-Christen/Mark-Braverman/e382022.rhd?mid=4&serviceAvailable=true&showpdf=false#tabbox
Der im Vorspann zitierte Satz findet sich auf S. 21:
"Die Wirklichkeit für die Kirchen heute ist, dass die Wachsamheit gegenüber dem Antisemitismus und die Bewahrung der mühsam gewonnenen Beziehung zur jüdischen Gemeinschaft den Bemühungen um Gerechtigkeit für das palästinensische Volk im Wege stehen" (Braverman, 21)