Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab.
Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer? Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache? Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen, Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden. Sie entsetzten sich aber alle und waren ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden?
„Sie entsetzten sich aber alle und waren ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden?“ Es ist Pfingsten, 50 Tage nach Ostern schon, gefühlt noch viel länger. Denn hinter uns liegen nun schon weit mehr als 50 Tage im Lockdown, in dem strenge Kontaktverbote und viele andere Einschränkungen gelten. Einige Lockerungen hat es schon gegeben. Unter Auflagen dürfen wieder Gottesdienste gefeiert werden. so wie heute, mit Abstand, Maske und beschränkter Teilnehmerzahl. Und in der Woche nach Pfingsten wird es weitere Lockerungen geben, überall unterschiedlich und so unübersichtlich, dass man sich besser kundig macht, sollte man nach Wochen der Isolation etwa ein anderes Bundesland besuchen wollen. Viele sind entsetzt über allzu forsche Rückkehr zur Normalität. Andere empören sich, weil es ihnen nicht schnell genug geht. Gemeinsam haben wir nur noch eines: Wir sind ratlos. „Was will das werden?“
In Jerusalem versammelt sich zu Pfingsten eine Gruppe von Menschen: Sie müssen sich nicht um eine Begrenzung der Teilnehmerzahl kümmern, im Gegenteil, sie sind ja froh, dass überhaupt noch welche von ihnen übrig und an diesem Ort versammelt sind. Im Haus und dort auch noch im Obergeschoß mit der niedrigen Decke und alle Türen fest verschlossen. Die Luft drinnen wird entsprechend gewesen sein. Menschen, die atmen und sprechen und vielleicht sogar singen, in einem geschlossenen Raum, ohne ausreichend Abstand. Auch ohne die Angst vor Ansteckung ist das schon bedrückend genug, so eng und dumpf und stickig fühlt es sich an.
„Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel, wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen.“ Sie haben den Wind schon hören können, wie er die Treppe hinaufsauste und sich mit der Tür in den Raum im Obergeschoß warf, sie haben sein Brausen gehört und das Schlagen der Tür. Er war auf ihrem Gesicht, auf der Stirn und in ihren Haaren, kühl, als käme er vom Meer und so dass man ihn bis tief in die Lungen einatmen möchte, diesen Wind. Wie ein tiefer Atemzug an einem offenen Fenster, morgens, wenn der Tag noch vor einem liegt und sich das Leben nach Anfang anfühlt. Sie dachten doch, jetzt sei alles zu Ende. Sie hatten sich eingerichtet damit. Und plötzlich kam dieser brausende Anfang.
Und wo gerade noch ein Wind ihre Stirnen gekühlt hatte, wurde es plötzlich heiß und hell und es stieg ihnen rot in die Wangen. „Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen“.
Kalt und heiß war ihnen jetzt, abwechselnd und gleichzeitig, so heiß, dass sie unbedingt diesen engen Raum verlassen mussten, sofort, unverzüglich, die Treppe hinunter, in heiliger Unordnung und alle zusammen. Und sich wiederfanden draußen vor dem Haus, immer noch wie umbraust, wie erleuchtet, mit kühler Stirn und roten Wangen gleichzeitig.
Ein beachtlicher Menschenauflauf vor diesem Haus und alle so außer sich. Das erregt Aufsehen in der Stadt, da kommt man doch mal und schaut, was los ist. Eine nicht genehmigte Versammlung, eine Art Demonstration vielleicht? Die da vor dem Haus sind wirklich außer sich geraten, sogar über ihre Sprachkenntnisse hinaus. „Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache, Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen, Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.“
Als hätten die Zungen wie von Feuer nicht nur die Wangen rot gemacht, sondern auch die Menschenzungen in den Mündern flink und lebendig. So können sie nicht nur alle zungenbrecherischen Namen dieser Länder und Völker plötzlich fließend aussprechen, sondern beherrschen auch noch die passenden Sprachen dazu, Hebräisch, Griechisch, Lateinisch und Arabisch samt allen regionalen Dialekten. Es gibt keine Fremdsprachen mehr, es gibt nur noch Muttersprachler. Es gibt keine Fremdheit mehr. Es gibt nur noch Verstehen.
Die Geschichte von Pfingsten in Jerusalem kommt an diesem Pfingsten zu uns zurück. Denn es gibt keine Fremdheit mehr unter uns Menschen, es gibt nur noch Verstehen. Alle Menschen, in unserem Land und in der ganzen Welt, verstehen plötzlich: Wir haben unser Leben nicht in der Hand. Es gibt Dinge, die wir nicht beeinflussen können. Wir sind vielen Gefahren ausgesetzt, Krankheit ist nur eine davon. Und dass wir leiden und sterben, gehört zu unserem Menschsein.
Die Menschen aus dem Obergeschoß in Jerusalem wussten das eigentlich. Sie gehörten zu Jesus und sie hatten sein Leiden und Sterben hautnah miterlebt. Und auch seine Auferstehung, diesen unglaublichen Neuanfang. Kalt und heiß war es ihnen geworden dabei. Dann zogen sie sich aber doch wieder zurück und wollten sich selbst genug sein in Enge und Dumpfheit. Deswegen kommt Gottes Geist zu ihnen und jagt sie aus dem Haus, die Treppe runter auf die Straße. Da stehen sie nun. Da stehen wir, mit kühlen Stirnen und roten Wangen, mitten in der Welt, in der es plötzlich keine Fremden mehr gibt, sondern nur Brüder und Schwestern.
„Was will das werden?“ Man kann sich das wirklich fragen, angesichts der Lockerungen, die jetzt kommen sollen. Wir müssten doch schon in unserem Land größere Sorgen haben als die, ob wir bald wieder essen gehen, Fußball gucken und im Sommer in den Urlaub fahren können. In Jerusalem konnten sie plötzlich in allen Sprachen von Gottes großen Taten erzählen. Und die tut Gott meistens an den Armen und Schwachen, an den Hilflosen und Unterdrückten. Davon gibt es genug, auch bei uns. Ich denke an die Kinder, die die letzten Wochen weitgehend vor dem Fernseher verbracht haben, ohne Ansprache und Förderung in Kitas und Schulen. An die Menschen, die aus ihren ohnehin unsicheren und schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen herausgeflogen sind oder sich nach der Arbeit im Schlachthof in der Sammelunterkunft angesteckt haben.
Und ich denke auch daran, dass in Berlin in wenigen Wochen ein nagelneues, perfekt ausgestattetes Notkrankenhaus mit 500 Betten aufgebaut wurde. Wahrscheinlich, hoffentlich wird es nie gebraucht. Aber zur gleichen Zeit haben Menschen anderswo auf der Welt überhaupt keine medizinische Versorgung. Die Armen und Schwachen kommen aus anderen Milieus als wir. Sie leben woanders auf der Welt, sie sprechen andere Sprachen. Aber sie sind keine Fremden, sondern unsere Nächsten. Der Geist von Pfingsten verbindet uns mit ihnen allen. Er macht uns die Stirn kühl, damit wir erkennen, was falsch läuft in unserer Welt. Und er macht uns das Herz heiß und die Wangen rot. Damit wir handeln.
Amen.