Liebe, Frühling, Advent

Predigt zum Hohen Lied 2,8-13 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 4. Dezember 2022 (zweiter Sonntag im Advent)


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Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde,

der Predigttext für heute ist aus dem Hohen Lied, dem Lied der Lieder. Er steht dort im 2. Kapitel. Ich lese die Verse 8-13:

8Hör ich da nicht meinen Liebsten?
        Ja, da kommt er auch schon!
Er springt über die Berge,
        hüpft herbei über die Hügel.
9Mein Liebster gleicht einer Gazelle
        oder einem jungen Hirsch.
Schon steht er an unserer Hauswand.
        Er schaut durch das Fenster herein,
        späht durch das Fenstergitter.
10Mein Liebster redet mir zu:
        „Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!
11Denn der Winter ist vorüber,
        der Regen vorbei, er hat sich verzogen.
12Blumen sprießen schon aus dem Boden,
        die Zeit des Frühlings ist gekommen:
        Turteltauben hört man in unserem Land.
13Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen.
        Die Reben blüh‘n, verströmen ihren Duft.
Schnell, meine Freundin,
        meine Schöne, komm doch heraus! …“

[I. Frühlingsgefühle]

Frühlingsgefühle. Ein herbeihüpfender Geliebter, der durchs Fenster lugt. Und die schöne Freundin herauszulocken versucht. Die Schöne hat sich nicht etwa verschanzt. Sie erwartet ihren Liebsten. Sie hört ihn kommen, dann sieht sie ihn, dann ist er da und redet ihr zu. Ich habe die Szene lebhaft vor Augen. Rieche die Rebenblüte, sehe die Blumen aus dem Boden sprießen, höre die Turteltauben. Es ist Zeit, herauszugehen aus dem bergenden Haus, hinein in den Frühling, hin zum Geliebten.

Die jüdische Tradition hat im Geliebten König Salomo gesehen, die Freundin wird ein paar Kapitel später mit Namen genannt: Sulamit. Salomo und Sulamit. In beiden Namen S-L-M, dieselben Buchstaben wie in Schalom. Salomo, der letzte König Israels, der Weise, der Kluge, der, der den Tempel in Jerusalem gebaut hat. Einer, dessen Zeit immer goldiger wurde, je weiter sie in die Ferne rückte. Salomo – auch einer, der Gottes Gunst hatte, der gottwohlgefällig lebte. Einer, der nicht als Kriegsherr ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist, sondern als Liebhaber und Gedichte-Schreiber.

Und die Gedichte im Hohen Lied? Sie sind so zauberhaft, so reich an Bildern, an Gefühlen, an Sinnlichem. Wer anders kann sie geschrieben haben als Salomo? Damit ist die Frage beantwortet, was solche Liebesgedichte in der Bibel machen. Denn natürlich kommt alles von Salomo in die Bibel! Oder auch: Was so schön ist, kann nur von Salomo sein!

[II. Frühling im Advent]

Warum aber dieser Text am zweiten Advent? Unsere Lesung hat ja einen ganz anderen Ton angeschlagen. Da wird zwar auch ein Kommender angekündigt, aber der versetzt die Völker in Angst und Schrecken. Die Kräfte des Himmels werden ins Wanken kommen. Und der Menschensohn, der kommt, kommt nicht wie eine Gazelle dahergehüpft über die Hügel, sondern mit großer Kraft und Herrlichkeit auf einer Wolke. Und dann sollen die Gläubigen ihre Häupter erheben, weil sich die Erlösung naht. Na, immerhin kein Feuersturm, sondern Erlösung! Ich weiß nicht genau, ob sie nach all der Kraft und Herrlichkeit noch ankommt, diese Erlösung.

Es werden sehr unterschiedliche Bilder von dem gezeichnet, was da kommt. Advent kommt von adventusventus heißt so viel wie Kommendes und ad, das heißt so viel wie hin oder zu. Also Advent ist das, was auf uns zukommt. Nicht die Zukunft, sondern das, was auf uns zukommt. Je nachdem, wie man es ausspricht, kann das schon etwas bedrohlich sein.

[III. Verschiedene Bilder]

Vielleicht brauchen wir verschiedene Bilder. Denn immer schon hat es eine zweite Lesart dieser Verse und des ganzen Hohen Liedes gegeben. Nämlich die, dass es hier nicht nur um die Liebe zwischen Salomo und Sulamit geht, sondern auch um die zwischen Gott und seinem Volk. Von Salomo zu Gott ist es ja nicht weit. Und Gott wird auch sonst als Liebender beschrieben, als einer, der auf Gegenliebe hofft und wartet, einer, der nicht betrogen werden will, einer, der leidenschaftlich werbend ist.

Wir sind als Reformierte eher etwas nüchtern gestrickt. Aber die Bibel ist ja nicht nur für Reformierte geschrieben, sondern für alle. Was für ein Glück, denn sonst hätte es das Hohe Lied vielleicht nicht in die Bibel geschafft: Nicht in die Hebräische Bibel und dann auch nicht ins Alte Testament.

Am nächsten Wochenende singe ich mit meinem Chor – Vorsicht Schleichwerbung! –ein vierstrophiges Lied von Hugo Distler auf einen Text von Heinz Grunow.

Ich brach drei dürre Reiselein
vom harten Haselstrauch
und tat sie in ein Tonkrüglein,
warm war das Wasser auch.

Das war am Tag Sankt Barbara,
da ich die Reislein brach,
und als es nah an Weihnacht war,
da ward das Wunder wach.

Da blühten bald zwei Zweigelein,
und in der heilgen Nacht,
brach auch das dritte Reiselein
und hat das Herz entfacht.

Ich brach drei dürre Reiselein
vom harten Haselstrauch,
Gott lässt sie grünen und gedeihn,
Wie unser Leben auch.

Heute, am 4. Dezember, ist der Gedenktag an die Hlg. Barbara und manche von Ihnen werden den Brauch kennen, Weiden-, Kirschbaum- oder Forsythienzweige ins Wasser zu stellen, damit sie an Weihnachten blühen. Das ist sozusagen der Adventsfrühling im Sauseschritt.

Distler hat es auf einen Text gedichtet, der ebenfalls Gottes erhaltende Liebe ans Ende stellt und das Wachstum, das sie ermöglicht. In diesem Lied sind Anklänge auf das neue Zweiglein zu hören, das aus der Wurzel Isais austreibt – in christlicher Lesart ein Symbol für Jesus Christus, und die drei „Reiselein“ stehen für das trinitarische Gottesbild aus Gottvater, dem Heiligem Geist und dem Sohn, der an Weihnachten geboren wird bzw. aufblüht.

[IV. Welche Orte braucht die Liebe?]

Aber noch ist es nicht so weit. Vielleicht schneiden Sie noch heute einen Zweig und stellen ihn in eine Vase. Aber warten müssen Sie. Und rausgehen müssen Sie auch.

Wenn ich in den Bildern des Predigttextes bleibe, dann wird nicht nur Sulamit nach draußen gelockt, sondern auch Sie:
Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!, heißt es zu Beginn. Und am Ende: Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!

Dieser Aufruf hat Sie heute heute Morgen herausgelockt (auch wenn Sie ihn nicht bewusst so gehört haben!) und er holt auch das Klischee vom Christkindlein in der Krippe heraus aus der warmen Stube. Die Bilderwelt des Hohen Liedes ist keine Kinderwelt, es ist eine Erwachsenenwelt. Eine Welt mit tiefen Emotionen, Leidenschaft und sehnsüchtiger Erwartung auf beiden Seiten.

Es braucht auch für Sulamit ein bisschen Mut, ihr Haus zu verlassen und sich einzulassen auf das Werben ihres Liebsten. Aber der Text ist schon so angelegt: Sie wird hinausgehen, um ihn zu treffen. Die Liebe braucht einen Ort, der nicht bei uns selbst, im Gewohnten liegt. Wie schön, dass es auch diese Beschreibungen von der Liebesgeschichte zwischen Gott und Mensch in unserer Bibel gibt. Wir könnten uns davon glatt inspirieren lassen und hinausgehen,

Amen.


Bärbel Husmann